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Munafa ebook

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Read Ebook: Klingsors letzter Sommer by Hesse Hermann

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Ebook has 754 lines and 57405 words, and 16 pages

An mir vorbei liefen Alleen, sanken Waldr?nder hinab. Auf einer H?he machte ich halt, abseits vom Weg, ins Gras geworfen, mit Herzklopfen, das vom Bergaufw?rtsrennen kommen konnte, das vielleicht bald besser wurde. Unten sah ich Stadt und Fluss, sah die Turnhalle, wo jetzt die Stunde zu Ende war und die Buben auseinanderliefen, sah das lange Dach meines Vaterhauses. Dort war meines Vaters Schlafzimmer und die Schublade, in der die Feigen fehlten. Dort war mein kleines Zimmer. Dort w?rde, wenn ich zur?ckkam, das Gericht mich treffen. -- Aber wenn ich nicht zur?ckkam?

Ich wusste, dass ich zur?ckkommen werde. Man kam immer zur?ck, jedesmal. Es endete immer so. Man konnte nicht fort, man konnte nicht nach Afrika fliehen oder nach Berlin. Man war klein, man hatte kein Geld, niemand half einem. Ja, wenn alle Kinder sich zusammentaten und einander h?lfen! Sie waren viele, es gab mehr Kinder als Eltern. Aber nicht alle Kinder waren Diebe und Verbrecher. Wenige waren so wie ich. Vielleicht war ich der einzige. Aber nein, ich wusste, es kamen ?fters solche Sachen vor wie meine -- ein Onkel von mir hatte als Kind auch gestohlen und viel Sachen angestellt, das hatte ich irgendwann einmal erlauscht, heimlich aus einem Gespr?ch der Eltern, heimlich, wie man alles Wissenswerte erlauschen musste. Doch das alles half mir nicht, und wenn jener Onkel selber da w?re, er w?rde mir auch nicht helfen! Er war jetzt l?ngst gross und erwachsen, er war Pastor, und er w?rde zu den Erwachsenen halten und mich im Stich lassen. So waren sie alle. Gegen uns Kinder waren sie alle irgendwie falsch und verlogen, spielten eine Rolle, gaben sich anders, als sie waren. Die Mutter vielleicht nicht, oder weniger.

Ja, wenn ich nun nicht mehr heimkehren w?rde? Es k?nnte ja etwas passieren, ich konnte den Hals brechen oder ertrinken oder unter die Eisenbahn kommen. Dann sah alles anders aus. Dann brachte man mich nach Hause, und alles war still und erschrocken und weinte, und ich tat allen leid, und von den Feigen und allem war nicht mehr die Rede.

Ich wusste sehr gut, dass man sich selber das Leben nehmen konnte. Ich dachte auch, dass ich das wohl einmal tun w?rde, sp?ter, wenn es einmal ganz schlimm kam. Gut w?re es gewesen, krank zu werden, aber nicht bloss so mit Husten, sondern richtig todkrank, so wie damals, als ich Scharlachfieber hatte.

Inzwischen war die Turnstunde l?ngst vor?ber, und auch die Zeit war vor?ber, wo man mich zu Hause zum Kaffee erwartete. Vielleicht riefen und suchten sie jetzt nach mir, in meinem Zimmer, im Garten und Hof, auf dem Estrich. Wenn aber der Vater meinen Diebstahl schon entdeckt hatte, dann wurde nicht gesucht, dann wusste er Bescheid.

Es war mir nicht m?glich, l?nger liegenzubleiben. Das Schicksal vergass mich nicht, es war hinter mir her. Ich nahm das Laufen wieder auf. Ich kam an einer Bank in den Anlagen vor?ber, an der hing wieder eine Erinnerung, wieder eine, die einst sch?n und lieb gewesen war und jetzt wie Feuer brannte. Mein Vater hatte mir ein Taschenmesser geschenkt, wir waren zusammen spazierengegangen, froh und in gutem Frieden, und er hatte sich auf diese Bank gesetzt, w?hrend ich im Geb?sch mir eine lange Haselrute schneiden wollte. Und da brach ich im Eifer das neue Messer ab, die Klinge dicht am Heft, und kam entsetzt zur?ck, wollte es erst verheimlichen, wurde aber gleich danach gefragt. Ich war sehr ungl?cklich, wegen dem Messer und weil ich Scheltworte erwartete. Aber da hatte mein Vater nur gel?chelt, mir leicht die Schulter ber?hrt und gesagt: >>Wie schade, du armer Kerl!<< Wie hatte ich ihn da geliebt, wieviel ihm innerlich abgebeten! Und jetzt, wenn ich an das damalige Gesicht meines Vaters dachte, an seine Stimme, an sein Mitleid -- was war ich f?r ein Ungeheuer, dass ich diesen Vater so oft betr?bt, belogen und heut bestohlen hatte!

Als ich wieder in die Stadt kam, bei der oberen Br?cke und weit von unserm Hause, hatte die D?mmerung schon begonnen. Aus einem Kaufladen, hinter dessen Glast?r schon Licht brannte, kam ein Knabe gelaufen, der blieb pl?tzlich stehen und rief mich mit Namen an. Es war Oskar Weber. Niemand konnte mir ungelegener kommen. Immerhin erfuhr ich von ihm, dass der Lehrer mein Fehlen in der Turnstunde nicht bemerkt habe. Aber wo ich denn gewesen sei?

>>Ach nirgends,<< sagte ich, >>ich war nicht recht wohl.<<

Ich war schweigsam und zur?ckweisend, und nach einer Weile, die ich emp?rend lang fand, merkte er, dass er mir l?stig sei. Jetzt wurde er b?se.

>>Lass mich in Ruh',<< sagte ich kalt, >>ich kann allein heimgehen.<<

>>So?<< rief er jetzt. >>Ich kann gradeso gut allein gehen wie du, dummer Fratz! Ich bin nicht dein Pudel, dass du's weisst. Aber vorher m?chte ich doch wissen, wie das jetzt eigentlich mit unserer Sparkasse ist! Ich habe einen Zehner hineingetan und du nichts.<<

>>Deinen Zehner kannst du wiederhaben, heut noch, wenn du Angst um ihn hast. Wenn ich dich nur nimmer sehen muss. Als ob ich von dir etwas annehmen w?rde!<<

>>Du hast ihn neulich gern genommen,<< meinte er h?hnisch, aber nicht, ohne einen T?rspalt zur Vers?hnung offen zu lassen.

Aber ich war heiss und b?se geworden, alle in mir angeh?ufte Angst und Ratlosigkeit brach in hellen Zorn aus. Weber hatte mir nichts zu sagen! Gegen ihn war ich im Recht, gegen ihn hatte ich ein gutes Gewissen. Und ich brauchte jemand, gegen den ich mich f?hlen, gegen den ich stolz und im Recht sein konnte. Alles Ungeordnete und Finstere in mir str?mte wild in diesen Ausweg. Ich tat, was ich sonst so sorgf?ltig vermied, ich kehrte den Herrensohn heraus, ich deutete an, dass es f?r mich keine Entbehrung sei, auf die Freundschaft mit einem Gassenbuben zu verzichten. Ich sagte ihm, dass f?r ihn jetzt das Beerenessen in unserm Garten und das Spielen mit meinen Spielsachen ein Ende habe. Ich f?hlte mich aufgl?hen und aufleben: ich hatte einen Feind, einen Gegner, einen, der schuld war, den man packen konnte. Alle Lebenstriebe sammelten sich in diese erl?sende, willkommene, befreiende Wut, in die grimmige Freude am Feind, der diesmal nicht in mir selbst wohnte, der mir gegen?berstand, mich mit erschreckten, dann mit b?sen Augen anglotzte, dessen Stimme ich h?rte, dessen Vorw?rfe ich verachten, dessen Schimpfworte ich ?bertrumpfen konnte.

Im anschwellenden Wortwechsel, dicht nebeneinander, trieben wir die dunkelnde Gasse hinab; da und dort sah man uns aus einer Haust?re nach. Und alles, was ich gegen mich selber an Wut und Verachtung empfand, kehrte sich gegen den unseligen Weber. Als er damit zu drohen begann, er werde mich dem Turnlehrer anzeigen, war es Wollust f?r mich: er setzte sich ins Unrecht, er wurde gemein, er st?rkte mich.

Als wir in der N?he der Metzgergasse handgemein wurden, blieben gleich ein paar Leute stehen und sahen unserm Handel zu. Wir hieben einander in den Bauch und ins Gesicht und traten mit den Schuhen gegeneinander. Nun hatte ich f?r Augenblicke alles vergessen, ich war im Recht, war kein Verbrecher, Kampfrausch begl?ckte mich, und wenn Weber auch st?rker war als ich, so war ich flinker, kl?ger, rascher, feuriger. Wir wurden heiss und schlugen uns w?tend. Als er mir mit einem verzweifelten Griff den Hemdkragen aufriss, f?hlte ich mit Inbrunst den Strom kalter Luft ?ber meine gl?hende Haut laufen.

Und im Hauen, Reissen und Treten, Ringen und W?rgen h?rten wir nicht auf, uns weiter mit Worten anzufeinden, zu beleidigen und zu vernichten, mit Worten, die immer gl?hender, immer t?richter und b?ser, immer dichterischer und phantastischer wurden. Und auch darin war ich ihm ?ber, war b?ser, dichterischer, erfinderischer. Sagte er Hund, so sagte ich Sauhund. Rief er Schuft, so schrie ich Satan. Wir bluteten beide, ohne etwas zu f?hlen, und dabei h?uften unsre Worte b?se Zauber und W?nsche, wir empfahlen einander dem Galgen, w?nschten uns Messer, um sie einander in die Rippen zu jagen und darin umzudrehen, wir beschimpften einer des andern Namen, Herkunft und Vater.

Es war das erste und einzige Mal, dass ich einen solchen Kampf im vollen Kriegsrausch bis zu Ende ausfocht, mit allen Hieben, allen Grausamkeiten, allen Beschimpfungen. Zugesehen hatte ich oft und mit grausender Lust diese vulg?ren, urt?mlichen Fl?che und Schandworte angeh?rt; nun schrie ich sie selber heraus, als sei ich ihrer von klein auf gewohnt und in ihrem Gebrauch ge?bt. Tr?nen liefen mir aus den Augen und Blut ?ber den Mund. Die Welt aber war herrlich, sie hatte einen Sinn, es war gut zu leben, gut zu hauen, gut zu bluten und bluten zu machen.

Niemals vermochte ich in der Erinnerung das Ende dieses Kampfes wieder zu finden. Irgendeinmal war es aus, irgendeinmal stand ich allein in der stillen Dunkelheit, erkannte Strassenecken und H?user, war nahe bei unserm Hause. Langsam floh der Rausch, langsam h?rte das Fl?gelbrausen und Donnern auf, und Wirklichkeit drang st?ckweise vor meine Sinne, zuerst nur vor die Augen. Da der Brunnen. Die Br?cke. Blut an meiner Hand, zerrissene Kleider, herabgerutschte Str?mpfe, ein Schmerz im Knie, einer im Auge, keine M?tze mehr da -- alles kam nach und nach, wurde Wirklichkeit und sprach zu mir. Pl?tzlich war ich tief erm?det, f?hlte meine Knie und Arme zittern, tastete nach einer Hauswand.

Und da war unser Haus. Gott sei Dank! Ich wusste nichts auf der Welt mehr, als dass dort Zuflucht war, Friede, Licht, Geborgenheit. Aufatmend schob ich das hohe Tor zur?ck.

Da mit dem Duft von Stein und feuchter K?hle ?berstr?mte mich pl?tzlich Erinnerung, hundertfach. O Gott! O lieber Gott! Es roch nach Strenge, nach Gesetz, nach Verantwortung, nach Vater und Gott. Ich hatte gestohlen. Ich war kein verwundeter Held, der vom Kampfe heimkehrte. Ich war kein armes Kind, das nach Hause findet und von der Mutter in W?rme und Mitleid gebettet wird. Ich war Dieb, ich war Verbrecher. Da droben war nicht Zuflucht, Bett und Schlaf f?r mich, nicht Essen und Pflege, nicht Trost und Vergessen. Auf mich wartete Schuld und Gericht.

Damals in der finstern abendlichen Flur und im Treppenhaus, dessen viele Stufen ich unter M?hen erklomm, atmete ich, wie ich glaube, zum erstenmal in meinem Leben f?r Augenblicke den kalten ?ther, die Einsamkeit, das Schicksal. Ich sah keinen Ausweg, ich hatte keine Pl?ne, auch keine Angst, nichts als das kalte, rauhe Gef?hl: >>Es muss sein.<< Am Gel?nder zog ich mich die Treppe hinauf. Vor der Glast?r f?hlte ich Lust, noch einen Augenblick mich auf die Treppe zu setzen, aufzuatmen, Ruhe zu haben. Ich tat es nicht, es hatte keinen Zweck. Ich musste hinein. Beim ?ffnen der T?r fiel mir ein, wie sp?t es wohl sei?

Ich trat ins Esszimmer. Da sassen sie um den Tisch und hatten eben gegessen, ein Teller mit ?pfeln stand noch da. Es war gegen acht Uhr. Nie war ich ohne Erlaubnis so sp?t heimgekommen, nie hatte ich beim Abendessen gefehlt.

>>Gott sei Dank, da bist du!<< rief meine Mutter lebhaft. Ich sah, sie war in Sorge um mich gewesen. Sie lief auf mich zu und blieb erschrocken stehen, als sie mein Gesicht und die beschmutzten und zerrissenen Kleider sah. Ich sagte nichts und blickte niemand an, doch sp?rte ich deutlich, dass Vater und Mutter sich mit Blicken meinetwegen verst?ndigten. Mein Vater schwieg und beherrschte sich; ich f?hlte, wie zornig er war. Die Mutter nahm sich meiner an, Gesicht und H?nde wurden mir gewaschen, Pflaster aufgeklebt, dann bekam ich zu essen. Mitleid und Sorgfalt umgab mich, ich sass still und tief besch?mt, f?hlte die W?rme und genoss sie mit schlechtem Gewissen. Dann ward ich zu Bett geschickt. Dem Vater gab ich die Hand, ohne ihn anzusehen.

Als ich schon im Bette lag, kam die Mutter noch zu mir. Sie nahm meine Kleider vom Stuhl und legte mir andere hin, denn morgen war Sonntag. Dann fing sie behutsam zu fragen an, und ich musste von meiner Rauferei erz?hlen. Sie fand es zwar schlimm, schalt aber nicht und schien ein wenig verwundert, dass ich dieser Sache wegen so sehr gedr?ckt und scheu war. Dann ging sie.

Und nun, dachte ich, war sie ?berzeugt, dass alles gut sei. Ich hatte H?ndel ausgefochten und war blutig gehauen worden, aber das w?rde morgen vergessen sein. Von dem andern, dem Eigentlichen, wusste sie nichts. Sie war betr?bt gewesen, aber unbefangen und z?rtlich. Auch der Vater wusste also vermutlich noch nichts.

Und nun ?berkam mich ein furchtbares Gef?hl von Entt?uschung. Ich merkte jetzt, dass ich seit dem Augenblick, wo ich unser Haus betreten hatte, ganz und gar von einem einzigen, sehnlichen, verzehrenden Wunsch erf?llt gewesen war. Ich hatte nichts anderes gedacht, gew?nscht, ersehnt, als dass das Gewitter nun ausbrechen m?ge, dass das Gericht ?ber mich ergehe, dass das Furchtbare zur Wirklichkeit werde und die entsetzliche Angst davor aufh?re. Ich war auf alles gefasst, zu allem bereit gewesen. Mochte ich schwer gestraft, geschlagen und eingesperrt werden! Mochte er mich hungern lassen! Mochte er mich verfluchen und verstossen! Wenn nur die Angst und Spannung ein Ende nahm!

Statt dessen lag ich nun da, hatte noch Liebe und Pflege genossen, war freundlich geschont und f?r meine Unarten nicht zur Rechenschaft gezogen worden und konnte nun aufs neue warten und bangen. Sie hatten mir die zerrissenen Kleider, das lange Fortbleiben, das vers?umte Abendessen vergeben, weil ich ein wenig m?de war und blutete und ihnen leid tat, vor allem aber, weil sie das andere nicht ahnten, weil sie nur von meinen Unarten, nichts von meinem Verbrechen wussten. Es w?rde mir doppelt schlimmgehen, wenn es nun ans Licht kam! Vielleicht schickte man mich, wie man fr?her einmal gedroht hatte, in eine solche Besserungsanstalt, wo man altes, hartes Brot essen und w?hrend der ganzen Freizeit Holz s?gen und Stiefel putzen musste, wo es Schlafs?le mit Aufsehern geben sollte, die einen mit dem Stock schlugen und morgens um vier Uhr mit kaltem Wasser weckten. Oder man ?bergab mich der Polizei?

Jedenfalls aber, es komme wie es m?ge, lag wieder eine Wartezeit vor mir. Noch l?nger musste ich die Angst ertragen, noch l?nger mit meinem Geheimnis herumgehen, vor jedem Blick und Schritt im Hause zittern und niemand ins Gesicht sehen k?nnen.

Oder war es am Ende m?glich, dass mein Diebstahl gar nicht bemerkt wurde? Dass alles blieb, wie es war? Dass ich mir alle diese Angst und Pein vergebens gemacht hatte? -- O, wenn das geschehen sollte, wenn dies Unausdenkliche, Wundervolle m?glich war, dann wollte ich ein ganz neues Leben beginnen, dann wollte ich Gott danken und mich dadurch w?rdig zeigen, dass ich Stunde f?r Stunde ganz rein und fleckenlos lebte! Was ich schon fr?her versucht hatte und was mir missgl?ckt war, jetzt w?rde es gelingen, jetzt war mein Vorsatz und Wille stark genug, jetzt nach diesem Elend, dieser H?lle voll Qual! Mein ganzes Wesen bem?chtigte sich dieses Wunschgedankens und sog sich inbr?nstig daran fest. Trost regnete vom Himmel, Zukunft tat sich blau und sonnig auf. In diesen Phantasien schlief ich endlich ein und schlief unbeschwert die ganze, gute Nacht hindurch.

Am Morgen war Sonntag, und noch im Bett empfand ich, wie den Geschmack einer Frucht, das eigent?mliche, sonderbar gemischte, im ganzen aber so k?stliche Sonntagsgef?hl, wie ich es seit meiner Schulzeit kannte. Der Sonntagmorgen war eine gute Sache: Ausschlafen, keine Schule, Aussicht auf ein gutes Mittagessen, kein Geruch nach Lehrer und Tinte, eine Menge freie Zeit. Dies war die Hauptsache. Schw?cher nur klangen andere, fremdere, fadere T?ne hinein: Kirchgang oder Sonntagsschule, Familienspaziergang, Sorge um die sch?nen Kleider. Damit wurde der reine, gute, k?stliche Geschmack und Duft ein wenig verf?lscht und zersetzt -- so wie wenn zwei gleichzeitig gegessene Speisen, etwa ein Pudding und der Saft dazu, nicht ganz zusammenpassten, oder wie zuweilen Bonbons oder Backwerk, die man in kleinen L?den geschenkt bekam, einen fatalen leisen Beigeschmack von K?se oder von Erd?l hatten. Man ass sie, und sie waren gut, aber es war nichts Volles und Strahlendes, man musste ein Auge dabei zudr?cken. Nun, so ?hnlich war meistens der Sonntag, namentlich wenn ich in die Kirche oder Sonntagsschule gehen musste, was zum Gl?ck nicht immer der Fall war. Der freie Tag bekam dadurch einen Beigeschmack von Pflicht und von Langeweile. Und bei den Spazierg?ngen mit der ganzen Familie, wenn sie auch oft sch?n sein konnten, passierte gew?hnlich irgend etwas, es gab Streit mit den Schwestern, man ging zu rasch oder zu langsam, man brachte Harz an die Kleider; irgendein Haken war meistens dabei.

Nun, das mochte kommen. Mir war wohl. Seit gestern war eine Masse Zeit vergangen. Vergessen hatte ich meine Schandtat nicht, sie fiel mir schon am Morgen wieder ein, aber es war nun so lange her, die Schrecken waren fernger?ckt und unwirklich geworden. Ich hatte gestern meine Schuld geb?sst, wenn auch nur durch Gewissensqualen, ich hatte einen b?sen, jammervollen Tag durchlitten. Nun war ich wieder zu Vertrauen und Harmlosigkeit geneigt und machte mir wenig Gedanken mehr. Ganz war es ja noch nicht abgetan, es klang noch ein wenig Drohung und Peinlichkeit nach, so wie in den sch?nen Sonntag jene kleinen Pflichten und K?mmernisse mit hineinklangen.

Beim Fr?hst?ck waren wir alle vergn?gt. Es wurde mir die Wahl zwischen Kirche und Sonntagsschule gelassen. Ich zog, wie immer, die Kirche vor. Dort wurde man wenigstens in Ruhe gelassen und konnte seine Gedanken laufen lassen; auch war der hohe, feierliche Raum mit den bunten Fenstern oft sch?n und ehrw?rdig, und wenn man mit eingekniffenen Augen durch das lange d?mmernde Schiff gegen die Orgel sah, dann gab es manchmal wundervolle Bilder; die aus dem Finstern ragenden Orgelpfeifen erschienen oft wie eine strahlende Stadt mit hundert T?rmen. Auch war es mir oft gegl?ckt, wenn die Kirche nicht voll war, die ganze Stunde ungest?rt in einem Geschichtenbuch zu lesen.

Heut nahm ich keines mit und dachte auch nicht daran, mich um den Kirchgang zu dr?cken, wie ich es auch schon getan hatte. So viel klang von gestern abend noch in mir nach, dass ich gute und redliche Vors?tze hatte und gesonnen war, mich mit Gott, Eltern und Welt freundlich und gef?gig zu vertragen. Auch mein Zorn gegen Oskar Weber war ganz und gar verflogen. Wenn er gekommen w?re, ich h?tte ihn aufs beste aufgenommen.

Der Gottesdienst begann, ich sang die Choralverse mit, es war das Lied >>Hirte deiner Schafe<<, das wir auch in der Schule auswendig gelernt hatten. Es fiel mir dabei wieder einmal auf, wie ein Liedervers beim Singen, und gar bei dem schleppend langsamen Gesang in der Kirche, ein ganz anderes Gesicht hatte als beim Lesen oder Hersagen. Beim Lesen war so ein Vers ein Ganzes, hatte einen Sinn, bestand aus S?tzen. Beim Singen bestand er nur noch aus Worten, S?tze kamen nicht zustande, Sinn war keiner da, aber daf?r gewannen die Worte, die einzelnen, gesungenen, langhin gedehnten Worte ein sonderbar starkes, unabh?ngiges Leben, ja, oft waren es nur einzelne Silben, etwas an sich ganz Sinnloses, die im Gesang selbst?ndig wurden und Gestalt annahmen. In dem Vers >>Hirte deiner Schafe, der von keinem Schlafe etwas wissen mag<< war zum Beispiel heute beim Kirchengesang gar kein Zusammenhang und Sinn, man dachte auch weder an einen Hirten noch an Schafe, man dachte durchaus gar nichts. Aber das war keineswegs langweilig. Einzelne Worte, namentlich das >>Schla--a--fe<<, wurden so seltsam voll und sch?n, man wiegte sich ganz darin, und auch das >>mag<< t?nte geheimnisvoll und schwer, erinnerte an >>Magen<< und an dunkle, gef?hlsreiche, halbbekannte Dinge, die man in sich innen im Leibe hat. Dazu die Orgel!

Und dann kam der Stadtpfarrer und die Predigt, die stets so unbegreiflich lang war, und das seltsame Zuh?ren, wobei man oft lange Zeit nur den Ton der redenden Stimme glockenhaft schweben h?rte, dann wieder einzelne Worte scharf und deutlich samt ihrem Sinn vernahm und ihnen zu folgen bem?ht war, solange es ging. Wenn ich nur im Chor h?tte sitzen d?rfen, statt unter all den M?nnern auf der Empore. Im Chor, wo ich bei Kirchenkonzerten schon gesessen war, da sass man tief in schweren, isolierten St?hlen, deren jeder ein kleines festes Geb?ude war, und ?ber sich hatte man ein sonderbar reizvolles, vielf?ltiges, netzartiges Gew?lbe, und hoch an der Wand war die Bergpredigt in sanften Farben gemalt, und das blaue und rote Gewand des Heilands auf dem blassblauen Himmel war so zart und begl?ckend anzusehen.

Manchmal knackte das Kirchengest?hl, gegen das ich eine tiefe Abneigung hegte, weil es mit einer gelben, ?den Lackfarbe gestrichen war, an der man immer ein wenig kleben blieb. Manchmal summte eine Fliege auf und gegen eines der Fenster, in deren Spitzbogen blaurote Blumen und gr?ne Sterne gemalt waren. Und unversehens war die Predigt zu Ende, und ich streckte mich vor, um den Pfarrer in seinen engen, dunklen Treppenschlauch verschwinden zu sehen. Man sang wieder, aufatmend und sehr laut, und man stand auf und str?mte hinaus; ich warf den mitgebrachten F?nfer in die Opferb?chse, deren blecherner Klang so schlecht in die Feierlichkeit passte, und liess mich vom Menschenstrom mit ins Portal ziehen und ins Freie treiben.

Jetzt kam die sch?nste Zeit des Sonntags, die zwei Stunden zwischen Kirche und Mittagessen. Da hatte man seine Pflicht getan, man war im langen Sitzen auf Bewegung, auf Spiele oder G?nge begierig geworden, oder auf ein Buch, und war v?llig frei bis zum Mittag, wo es meistens etwas Gutes gab. Zufrieden schlenderte ich nach Hause, angef?llt mit freundlichen Gedanken und Gesinnungen. Die Welt war in Ordnung, es liess sich in ihr leben. Friedfertig trabte ich durch Flur und Treppe hinauf.

In meinem St?bchen schien Sonne. Ich sah nach meinen Raupenk?sten, die ich gestern vernachl?ssigt hatte, fand ein paar neue Puppen, gab den Pflanzen frisches Wasser.

Da ging die T?r.

Ich achtete nicht gleich darauf. Nach einer Minute wurde die Stille mir sonderbar; ich drehte mich um. Da stand mein Vater. Er war blass und sah gequ?lt aus. Der Gruss blieb mir im Halse stecken. Ich sah: er wusste! Er war da. Das Gericht begann. Nichts war gut geworden, nichts abgeb?sst, nichts vergessen! Die Sonne wurde bleich, und der Sonntagmorgen sank welk dahin.

Aus allen Himmeln gerissen starrte ich dem Vater entgegen. Ich hasste ihn, warum war er nicht gestern gekommen? Jetzt war ich auf nichts vorbereitet, hatte nichts bereit, nicht einmal Reue und Schuldgef?hl. -- Und wozu brauchte er oben in seiner Kommode Feigen zu haben?

Er ging zu meinem B?cherschrank, griff hinter die B?cher und zog einige Feigen hervor. Es waren wenige mehr da. Dazu sah er mich an, mit stummer, peinlicher Frage. Ich konnte nichts sagen. Leid und Trotz w?rgten mich.

>>Was ist denn?<< brachte ich dann heraus.

>>Woher hast du diese Feigen?<< fragte er, mit einer beherrschten, leisen Stimme, die mir bitter verhasst war.

Ich begann sofort zu reden. Zu l?gen. Ich erz?hlte, dass ich die Feigen bei einem Konditor gekauft h?tte, es sei ein ganzer Kranz gewesen. Woher das Geld dazu kam? Das Geld kam aus einer Sparkasse, die ich gemeinsam mit einem Freunde hatte. Da hatten wir beide alles kleine Geld hineingetan, das wir je und je bekamen. ?brigens -- hier war die Kasse. Ich holte die Schachtel mit dem Schlitz hervor. Jetzt war bloss noch ein Zehner darin, eben weil wir gestern die Feigen gekauft hatten.

Mein Vater h?rte zu, mit einem stillen, beherrschten Gesicht, dem ich nichts glaubte.

>>Wieviel haben denn die Feigen gekostet?<< fragte er mit der zu leisen Stimme.

>>Eine Mark und sechzig.<<

>>Und wo hast du sie gekauft?<<

>>Beim Konditor.<<

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